Szenariorahmen

Der Szenariorahmen für ein nahezu klimaneutrales Energiesystem für das Jahr 2050 im Forschungsprojekt ZellNetz2050 basiert auf dem Elektrifizierungsszenario mit einem 95-prozentigem Treibhausgas-Reduktionsziel aus der dena-Leitstudie "Integrierte Energiewende" aus dem Jahr 2018. Ergänzend kommen verschiedene Studien zu wahrscheinlichen Entwicklungen verschiedener Technologieoptionen zum Einsatz, um die verwendeten Simulationsmodelle vollständig parametrieren zu können.

Das Gesamtszenario der Erzeugung, neuer Verbraucher und Sektorkopplungen setzt sich wie folgt zusammen1:

  • Photovoltaik: 159,2 GW
  • Wind Onshore: 167,3 GW
  • Wind Offshore: 27,6 GW
  • Bioenergieanlagen: 9,7 GW
  • Laufwasserkraftwerke: 3,6 GW
  • Pumpspeicherwerke: 7,1 GW bzw. 38,6 GWh
  • Gaskraftwerke: 98 GW
  • KWK-Anlagen gasbefeuert: 49,3 GW
  • Batteriespeicher: 58,4 GW bzw. 58,4 GWh
  • Elektrofahrzeuge: 35,4 Mio. Stück
  • Heizsysteme: 16,8 Mio. Wärmepumpen, 1,5 Mio. Fernwärmeheizungen, 1,2 Mio. Gasheizungen
  • Power-to-Gas: 52,9 GW
  • Power-to-Heat: 4,3 GW

Dieses deutschlandweite Szenario wurde anschließend auf Basis statistischer Daten zu Einwohnerzahl, historischen Daten, Technologiepotenzialen, Flächennutzung, Wohlstand und Einkommen, industriellem Wasserstoffbedarf etc. auf die Knoten der Höchst-, Hoch-, Mittel- und Niederspannungsnetze regionalisiert. Großkraftwerke und Offshore-Windparks wurden manuell im Zuge von Netzplanungsmaßnahmen verortet.

Die Zeitreihen konventioneller Lasten wurden mit Hilfe eines stochastischen Softwaretools zur Erzeugung von Haushaltslastprofilen sowie mit Standardlastprofilen für Gewerbe- und Industrieverbrauchern und Daten der ENTSO-E erzeugt. Für wetterabhängige Verbraucher kommen die Wetterdaten des Deutschen Wetterdienstes für das Testreferenzjahr 2045 zum Einsatz. Die Erzeugungszeitreihen für Bioenergieanlagen und Laufwasserkraftwerke folgen den kumulierten Erzeugungsprofilen der ENTSO-E für das Jahr 2020. Um das Nutzungsverhalten batterieelektrischer Fahrzeuge abzubilden, wurden statistische Daten aus Mobilitätserhebungen sowie ein pseudo-stochastisches Modell für Einzelfahrzeuge verwendet.

1) Abweichungen zu der Werten der dena-Leitstudie "Integrierte Energiewende" stammen aus Vereinfachungen während der Regionalisierung sowie aus Anpassungen während des Netzplanungsprozesses


Netzmodelle

Wie bereits zuvor  beschrieben, liegt der Fokus der Untersuchungen in ZellNetz2050 auf dem elektrischen System. Daher wird das elektrische Versorgungsnetz mit hohem Umfang und Detailniveau sowie vollständig georeferenziert abgebildet, wobei wo immer möglich auf echte Kartendaten zurückgegriffen wurde. Es umfasst das gesamte Höchstspannungsnetz der Spannungsebenen 220 kV und 380 kV sowie die aktuell im Netzentwicklungsplan vorgesehenen HVDC-Verbindungen und die Interkonnektoren zu den europäischen Nachbarn. Ergänzt wird es durch fünf Hochspannungsnetze, die repräsentativ für die Hochspannungsebene in Deutschland stehen und die anhand öffentlich verfügbarer Kartendaten und Standardparametern für die Betriebsmittel aufgebaut wurden.

Repräsentative Hochspannungsnetze
RegionCharakterisierung
Schleswig-Holsein
  • Ländlich geprägt mit einzelnen urbanen Zentren
  • Ca. 14.000 km2
  • Niedrige bis mittlere Lastdichte
  • Hohe erneuerbare Erzeugungsleistung, insb. Wind
Gelsenkirchen
  • Städtisch-industriell geprägtes Gebiet
  • Ca. 105 km2
  • Sehr hohe Lastdichte
  • Sehr geringe erneuerbare Erzeugungsleistung
Dresden
  • Städtisch geprägtes Gebiet mit dichter Altstadt
  • Ca. 125 km2
  • Mittlere Lastdichte
  • Mittlere erneuerbare Erzeugungsleistung
Pfalz
  • Region mit stark heterogener Struktur und zwei urbanen/industriellen Zentren
  • Ca. 6.100 km2
  • Mittlere Lastdichte (durchschnittlich), punktuell hohe Industrielast
  • Mittlere bis hohe erneuerbare Erzeugungsleistung
Allgäu
  • Ländlich geprägtes Gebiet mit starkem saisonalen Gradient
  • Ca. 1750 km2
  • Geringe Lastdichte (im Jahresmittel)
  • Hohe ernuerbare Erzeugungsleistung (insb. PV)

 

Ergänzend sind in den fünf repräsentativen Regionen je 5-6 repräsentative Mittel- und weitere 5-6 repräsentative Niederspannungsnetze enthalten, sodass in insgesamt etwa 30 Fällen das elektrische System bis an die Knoten der Hausanschlüsse modelliert wird. Dies ist insbesondere deswegen wichtig, weil den Verteilnetzen im zukünftigen Stromnetz eine tragende Rolle zukommt, etwa bei der Bereitstellung dezentraler Flexibilitäten und erneuerbarer Erzeugung zur Unterstützung des Gesamtsystems. Die Netztopologie und Parameter der Betriebsmittel orientieren sich dabei an den synthetischen Mittelspannungsnetzen  und Niederspannungsnetzen  der TUK, während sich die geographische Verortung an öffentlichen Kartendaten wie OpenStreetMaps und Google Earth orientiert.

Die mit den Last- und Erzeugungsdaten des Status Quo erzeugten Netzmodelle wurden anschließend anhand des regionalisierten Gesamtszenarios und Annahmen für die Gleichzeitigkeitsfaktoren in PSS Sincal für das Jahr 2050 geplant. Dabei wurden drei Szenarien berücksichtigt:

  • Ein allgemeines Starklastszenario bei gleichzeitig geringer erneuerbarer Erzeugung, repräsentativ für einen kalten Wintermorgen
  • Ein allgemeines Rückspeiseszenario bei gleichzeitig hoher erneuerbarer Erzeugung, repräsentativ für einen Sommertag mit geringer Last
  • Ein Mischszenario mit Nord-Süd-Gradient der residualen Erzeugung, repräsentativ für einen Tag mit hoher Last im Süden und hoher erneuerbarer Einspeisung im Norden

Zusätzlich zum elektrischen Netzmodell wurde ein bilanzielles Modell des deutschen Ferngasleitungsnetzes aus dem 2021 veröffentlichten SciGrid-Datensatz sowie weiteren öffentlichen Quellen erstellt, um z. B. die Mengenrestriktionen des Gasnetzes bei der Versorgung der gasbefeuerten Kraftwerke berücksichtigen zu können. Da im gewählten Szenario die gesamte Gasnachfrage bis 2050 auf ca. 500 TWh/a sinkt, bleibt das Gasnetz auf dem Status Quo. Entsprechend der Annahmen der dena-Leitstudie "Integrierte Energiewende" wird kein flächendeckendes Wasserstoffnetz modelliert, allerdings wird die Option untersucht, allein die thermischen Reservekraftwerke mit Wasserstoff statt Methan über dedizierte Leitungen zu versorgen. Wärmenetze wurden analog zum Kupferplatten-Modell im Stromsektor als "Wärme-Seen" abgebildet, d. h. als aggregierte Verbraucher bzw. Erzeuger ohne Berücksichtigung der Rohrleitungsinfrastruktur.


Technologiemodelle

Der charakterisierende Bestandteil der Technologiemodelle besteht in der Abbildung der Flexibilität, also der Fähigkeit, den Wirkleistungsaustausch im Rahmen des vorgeschlagenen Intraday-Markts anzupassen. In den Simulationsmodellen des Forschungsprojekts kann Flexibilität prinzipiell auf zwei Arten bereitgestellt werden:

  • Verwendung eines vorhandenen Speichers, z. B. bei Kombinationen aus Wärmepumpen und Wärmespeichern
  • Anpassung des Wirkleistungsaustauschs in einem definierten Band, z. B. bei Prozessen mit hoher thermischer Zeitkonstante oder Abregelung von Erzeugungsanlagen

Die Flexibilität um einen Arbeitspunkt wird dabei von verschiedenen technischen Parametern begrenzt, z. B. von der Mindestleistung thermischer Kraftwerke oder der maximal unterbrechbaren Energie einer Last. Folgende Tabelle gibt einen Überblick über die in ZellNetz2050 verwendeten Technologien, der Schnittstelle zum Energiesystem sowie die möglichen Einschränkungen der Flexibilität. Zu berücksichtigen ist zudem, dass hier zwischen den eigentlichen Quellen der Energie (z. B. Photovoltaik: Gleichstrom) und der anschließenden Konversionstechnologie (z. B. Inverter) unterschieden wird.

Übersicht über verwendete Technologien und deren Flexibilitäten (ohne Abregelung); F: Flexibel, X: Unflexibel
TechnologieEnergieformEinschränkungen der FlexibilitätKommentar
 PDCPACQACPthermPchem  
PhotovoltaikX      
WindenergieanlagenXXX   PDC: Konverterverbundene Anlagen, PAC/QAC: Direktgekoppelte Anlagen
Biogas/-masse-Erzeugung    X  
Laufwasserkraft XF  BemessungsleistungLaufwasserkraftwerke weisen wegen wasserhaushaltlicher Einschränkungen meist keine Wirkleistungsflexibilität auf
ImportFFF FBemessungsleistung der Interkonnektoren 
InverterXXF  Bemessungsleistung 
KWK-Anlage FFF/XXBemessungsleistung, min. Leistung, WärmebedarfWärmebedarf bei Entnahmekondensationsturbinen flexibel, bei Gegendruckturbinen fix
Gasturbine FF XBemessungsleistung, min. Leistung 
Heizwerk   FXWärmebedarf 
WärmepumpeFFFF Bemessungsleistung, WärmebedarfWärmepumpen können über Konverter oder direkt ans Netz gekoppelt sein
ElektrolyseF   XBemessungsleistung 
BatteriespeicherF    Bemessungsleistung, Batteriekapazität, aktueller Ladestand 
PSKW FF  Bemessungsleistung, max. Speicherbeckeninhalt, aktueller Speicherstand 
Warmwasserspeicher   F Bemessungsleistung, max. Speicherinhalt, aktueller Speicherstand 
Gasspeicher    FBemessungsleistung, max. Speicherinhalt, aktueller Speicherstand 
ElektrofahrzeugeF    Bemessungs-Ladeleistung, max. Speicherinhalt, aktueller Speicherinhalt, min. SpeicherinhaltFür Elektrofahrzeuge kann ein minimaler Speicherinhalt definiert werden, der zu einer bestimmten Uhrzeit wieder vorhanden sein muss
Steuerbare Last FFFFBemessungsleistung, min. Leistung, max. Leistung, unterbrechbare Energie 
Lastprofil XXXX  

 


Offline-Simulation

Das Offline-Simulationsmodell liefert den Proof-of-Concept für das vorgeschlagene Systemdesign. Es beinhaltet den oben beschriebenen Szenariorahmen, die Netz- und Technologiemodelle und das Marktdesign mit dem LMP-Regime. Die Strom-, Gas-, und Wärmesysteme sind im Optimierungsproblem abhängig voneinander, wobei sie unterschiedlichen Marktprinzipien folgen.

Dem übergeordneten Design folgend erfolgt die betriebliche Planung mit einem rollierenden Horizont ("rollierende Planung", siehe Abbildung), was die begrenzte Verfügbarkeit und Genauigkeit von Vorhersagen widerspiegelt. Die einzelnen Planungsfenster überlappen und sorgen so für Kontinuität und Feedback für die Iterationsschritte. Dieser Ansatz ist für Langzeit- oder saisonale Speicher nur bedingt geeignet, da diese einen längeren Planungshorizont benötigen. Daher wurde für Langzeitspeicher (z. B. Wasserstoff) eine übergeordnete Regelung implementiert, die adäquate Speicherfüllstände auf einer längeren Zeitskala bestimmt.

Das Ziel der Optimierung ist die wirtschaftlich optimale Versorgung aller Lasten in jedem Zeitschritt unter Berücksichtigung der zeitlichen Flexibilität über angrenzte Zeitschritte und die Kosten der Energieübertragung. Daher ist die Zielfunktion, die variablen Kosten der konventionellen, biogenen und KWK-Stromerzeugung zu minimieren. Andere erneuerbare Erzeuger haben keine variablen Kosten und sind daher nicht Teil der Zielfunktion. Wichtigste Randbedingung ist die Wirkleistungsbilanz an jedem Knoten und zu jedem Zeitpunkt: die Summe von Erzeugung, Verbrauch, Ein- oder Ausspeicherung, Verbrauch zur Sektorkopplung und Wirkleistungsaustausch müssen immer gleich Null sein. Für all diese Aspekte gelten weitere technologiespezifische Randbedingungen wie beispielsweise die Bemessungsleistung von Leitungen, Begrenzungen von Leistungsrampen, Minimalleistungen etc.

Die gleichen Grundsätze gelten auch im Gas- und Wärmesystem, wobei die Modellierungstiefe in diesen Systemen deutlich geringer ist.

Flexibilitäten sind mit erweiterten Randbedingungen zu berücksichtigen, da sie häufig energetischen Beschränkungen (z. B. Batteriespeicher), zeitschrittkopplenden Beschränkungen (z. B. BEV), Unbeständigkeit (z. B. PV-Anlagen) oder nachgelagerten Verbrauchsbeschränkungen (z. B. Wärmepumpen in kalten Zeiten) unterliegen.


Online-Simulationsmodell

Die Online-Simulation ergänzt die zuvor beschriebene Offline-Simulation um ein Betriebsführungsmodell in realistischer Netzleitstellenumgebung. Hierfür kommt der als Trainingssimulator für das Personal von Netzleitstellen entwickelte und eingesetzte Power System Handler (PSH) des Duisburger Unternehmens DUtrain zum Einsatz. Neben der visuellen Darstellung und Benutzeroberfläche ist auch die zeitliche Auflösung der Netzberechnung an die üblichen Werte in Netzleitstellen angelehnt. Die Ergebnisse der Frequenzberechnung am Einmassen-Frequenzmodell werden in 100-ms-Schritten ausgegeben, die Resultate der Lastflussberechnung in 10-s-Schritten. Die Simulationsumgebung des PSH ist also nicht mit einer volldynamischen Simulation des elektrischen Systems zu verwechseln, auch wenn die graphische Darstellung eine solche vermuten lassen kann.

Ziel der Online-Simulation ist folglich die Untersuchung der Handhabbarkeit des vorgeschlagenen Systemkonzepts aus Sicht des Netzleitstellenpersonals (Operator). Ein erster Untersuchungsgegenstand ist die Visualisierung der Abläufe des Marktmodells und der daraus resultierenden Ereignisse im Stromnetz, sodass die Operator jederzeit das reguläre Verhalten des Energiesystems nachvollziehen können. Darauf aufbauend werden Störungen in den idealen Ablauf der Offline-Simulation eingespielt, um verschiedene Aufgaben der Netzleitstelle anzustoßen. Dies können z. B. Abweichungen von der Wetter- oder Lastprognose sein, Ausfälle von Netzbetriebsmitteln oder Endkundenzellen. In allen Fällen stehen verschiedene Maßnahmen zur Verfügung, die anhand des Betriebsführungskonzepts und des Automatisierungskonzepts angewendet werden können, um das Wirkleistungsungleichgewicht zu bekämpfen. Da dem PSH ein AC-Lastflussmodell zu Grunde liegt, werden in der Online-Simulation auch Blindleistungs- bzw. Spannungsprobleme und deren Lösung untersucht. Zuletzt gehört zum Untersuchungsraum auch der Netzwiederaufbau nach Großstörungen, wobei auf die Erfahrungen mit den heute üblichen Methoden des Netzwiederaufbaus zurückgegriffen wird. In all diesen Fällen soll jedoch nicht nur untersucht werden, ob das System für die verantwortlichen Personen beobachtbar und handhabbar bleibt, sondern auch, welche Informationen hierzu bereitgestellt werden müssen und wie diese aufzubereiten sind.

Da im Fokus der Online-Simulation die Interaktion des Menschen mit dem präsentierten System steht, wird nicht der gesamte Umfang des Offline-Simulationsmodells auf dem PSH abgebildet, da dieser für die Bearbeitung durch einen oder auch einige wenige Personen zu komplex wäre. Stattdessen wird lediglich das Übertragungsnetz und die Hoch- und Mittelspannungsnetze in den Regionen Schleswig-Holstein und Gelsenkirchen abgebildet, sodass die beiden Extrema der Ausprägung der Verteilnetze berücksichtigt sind. Die sich stündlich aktualisierenden Eingangsdaten werden über eine Software-Schnittstelle aus den Ausgangsdaten des Offline-Simulationsmodells entnommen und für den PSH aufbereitet. Wegen der hohen Initialisierungsdauer des Offline-Modells ist allerdings keine dauerhafte Rückkopplung der Ausgangsdaten des PSH zum Offline-Modell vorgesehen.