Zellulares Energiesystem
Einleitung
Die Konsequenzen der Energiewende können in technische und wirtschaftliche Dimensionen aufgeteilt werden. Auf technischer Seite steht eine verstärkte räumliche und zeitliche Divergenz von Erzeugung und Verbrauch, die zu
- verstärkter Anwendung von Engpassmanagement in Folge häufigerer unzulässiger Netzbelastung für den spatialen Ausgleich,
- hohem Speicherbedarf für den zeitlichen Ausgleich und
- höherem Regelenergie- bzw. Flexibilitätsbedarf für den Ausgleich der Volatilität der erneuerbaren Energiequellen
führen. Auf wirtschaftlicher Seite steht eine rasant anwachsende Zahl kleinteiliger, verteilter energiewirtschaftlicher Akteure, weswegen neue Marktkonzepte notwendig werden. Darüber hinaus muss sich auch die Rollenverteilung innerhalb des Energiesystems ändern, da zukünftig z. B. Verteilnetze einen wesentlichen Beitrag zur Stützung des Gesamtsystems leisten.
Zentrale Herausforderungen, die von neuen System- bzw. Marktkonzepten gelöst werden müssen, umfassen u. a.
- die planerische Integration und betriebliche Aktivierung einer großen Anzahl aktiver Systemteilnehmer auf allen Systemebenen
- die Berücksichtigung multipler Freiheitsgrade der Systemteilnehmer
- den optimalen Ausgleich zwischen Übertragung von Energie und Einsatz von Flexibilitäten
- die Aufrechterhaltung eines energetisch und wirtschaftlichen effizenzten Systembetriebs
- die Sicherstellung der Lösbarkeit des hochkomplexen Optimierungsproblems, sowohl hinsichtlich der Konvergenz als auch der Rechenzeit
Der Zellulare Ansatz verfolgt das Ziel, die Komplexität des Gesamtsystems auf einzelne, subsidiäre Einheiten - die Energiezellen - zu verteilen, sodass jede Einheit nur einen handhabbaren Teil des gesamten Optimierungsproblems lösen muss und das Gesamtproblem so durch viele Einheiten parallel gelöst werden kann. Gleichzeitig wird das Marktkonzept spezifisch auf die Anforderungen eines von erneuerbaren Energiequellen, Speichertechnologien und Sektorkopplungen dominierten Energiesystem ausgerichtet, sodass der Abruf von Flexibilitäten und die Vermeidung von Netzengpässen im Vordergrund stehen. Zur Sicherstellung der wirtschaftlichen Effizienz fließen diese Aspekte mit ihren Kosten direkt in den Marktablauf ein, sodass jederzeit die kostengünstigste Lösungsvariante für das Optimierungsproblem der Energieversorgung gewählt wird.
Zelldefinition
In der Vergangenheit haben sich mehrere separate Energieversorgungssysteme für Elektrizität, Gas und Wärme gebildet, die weitgehend unabhängig voneinander geplant und betrieben wurden. Eine Kernidee der Energiewende, die nicht nur im Zusammenhang mit dem zellularen System zur Anwendung kommt, ist die planerische und betriebliche Kopplung dieser bisher getrennten Sektoren, die sog. Sektorkopplung. Sie ermöglicht die bessere Nutzung z. B. von selbstabgleichenden statistischen Effekten, was zu Kosteneinsparungen führen kann. Sektorkopplung ist zudem essentiell für die Abkehr von fossilen Energieträgern im Gas- und Fernwärmebereich.
Im Forschungsprojekt ZellNetz2050 wurde eine umfangreiche Definition für die Energiezelle erarbeitet, die auf den vorangegangenen Arbeiten des VDE basiert, jedoch im Hinblick auf Effizienz und Wirtschaftlichkeit weiterentwickelt wurde. Die Definition der Energiezelle ist dabei bewusst so allgemein wie möglich gehalten, um den Anwendungsbereich des Zellularen Ansatzes nicht einzuschränken. Eine Energiezelle ist daher ein bilanzierbarer Teil eines multi-sektoralen Energieversorgungssystems, die aus der Versorgungsinfrastruktur der relevanten Energiesektoren besteht und in der die Bilanzierung von Erzeugung und Last in Zusammenarbeit mit benachbarten Energiezellen und unter Berücksichtigung aller verfügbaren Energieformen durch ein Energiezellenmanagement organisiert wird. Konkret bedeutet dies, dass die Abgrenzung einer Energiezelle primär von der geographischen Ausdehnung der enthaltenen Infrastruktur einer hierarchischen Ebene abhängt. So kann eine Energiezelle sowohl ein einzelner Haushalt sein, aber auch ein Wohnquartier, ein einzelnes Niederspannungsnetz, ein regionales Fernwärmenetz und auf höchster Ebene ein ganzes Land. Üblicherweise decken verschiedene Energiesektoren auf gleicher hierarchischer Ebene verschieden große zusammenhängende Gebiete ab, weswegen die Energiezellen verschiedener Sektoren auf gleicher Ebene überlappen können. In ZellNetz2050 wird das elektrische System als führendes Energiesystem angenommen, da hier die größte Volatilität herrscht und die meisten erneuerbaren Energieträger sowie neuen Lasten in das elektrische System einspeisen bzw. von dort versorgt werden.
Im Gegensatz zu verschiedenen anderen Projekten im Zusammenhang mit dem zellularen Ansatz verfolgt ZellNetz2050 keinen Microgrid-Ansatz, in dem die Energiezellen eine möglichst autarke Energieversorgung anstreben. Im Gegenteil sollen geographische und temporale statistische Ausgleichseffekte durch ein dynamisches Marktkonzept optimal genutzt werden, um die Notwendigkeit für vergleichsweise stark verlustbehaftete Speicherung und Konvertierung von Energie auf ein Minimum zu begrenzen.
System- und Marktkonzept
Vertikal werden die Energiezellen in drei verschiedene Energiezellebenen eingeteilt:
- Ebene A umfasst alle Endkunden jenseits eines Netzzugangspunkts, also z. B. Wohngebäude, Industriebetriebe, Kraftwerke, Windparks etc.
- Ebene B umfasst die Verteilnetze, also im elektrischen Bereich die Nieder- und Mittelspannungsnetze, die üblicherweise unvermascht betrieben werden
- Ebene C schließlich umfasst die Übertragungsnetze auf überregionaler und nationaler Ebene
Diese Einteilung ist essentiell für das Verständnis der Aufgaben und Zuständigkeiten der Einheiten des Energiezellenmanagements.
Jede Energiezelle verfügt über ein Energiezellenmanagement (EZM), dessen definitionsgemäße Aufgabe es ist, die Versorgungstechnik sowie die Energie- und Informationsflüsse in, innerhalb und ausgehend von der Energiezelle zu überwachen, regeln und zu steuern. Der entscheidungsfindende Teil des EZM wird allgemein als System Operator bezeichnet, wobei sich die Aufgaben des Systembetreibers je nach Energiezellebene unterscheiden, was sich wiederum in der genauen Bezeichnung widerspiegelt. Auf Ebene A heißt der System Operator - wegen des Bezugs auf eine einzelne Endkundeneinheit - Unit Operator und ist zuständig für die interne Optimierung der Energiezellen der Endkunden. Auf den Zellebenen, die Netzinfrastruktur enthalten, heißen die System Operator - nach amerikanischem Vorbild - Independent System Operators (ISOs). Es wird weiter nach Locals ISOs auf Ebene B und Central ISOs auf Ebene C unterschieden, wobei erstere in vielen Aspekten den heutigen Verteilnetzbetreibern entsprechen und die letzteren die Aufgaben der heutigen Übertragungsnetzbetreiber übernehmen.
In den ISOs spiegelt sich ein zentraler Bestandteil des neuartigen zweistufigen System- und Marktkonzepts wider, denn ISOs übernehmen die gemeinsame Optimierung von Netz und Energiemarkt (Day-Ahead-Markt, Intraday-Markt), sodass jedes Marktergebnis inhärent restriktionsfrei und - auf Ebene C - n-1-sicher ist. Das zentrale Werkzeug zur Steuerung der Zellen der Ebene A ist dabei die Erzeugung knotenscharfer, dynamischer Preise für elektrische Energie (engl. local marginal pricing). In diese Knotenpreise fließt nicht nur das Wirkleistungsungleichgewicht an den Knoten ein, sondern auch Netzrestriktionen, sodass diese Methode der Preisbildung auch als präventives Engpassmanagement fungiert. Daraus ergibt sich eine wichtige Unterscheidung bezüglich der möglichen Motivationen für Flexibilitätseinsatz:
- Flexibilitätseinsatz zur Vermeidung von Netzengpässen, d.h. zur Beeinflussung der zu übertragenden Leistung an bestimmten Stellen
- Flexibilitätseinsatz zur Bilanzierung von Erzeugung und Verbrauch
Beide Motive treten in Betrieb und Planung in unterschiedlicher Ausprägung auf und sollten bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden.
Auf Ebene der Endkunden sind die Unit Operator dafür zuständig, die Anlagen der Energiezelle unter Berücksichtigung interner (z. B. Last) oder externer (z. B. Wetter) Prognosen zu optimieren und Gebote zu generieren, die dem korrespondierenden ISO übermittelt werden. Für das Market Clearing ist der CISO zuständig, die LISOs für die Aggregation der Daten der Energiezellen der Ebene A sowie die Disaggregation der Daten des CISO nach dem Market Clearing. Das Optimierungsproblem wird dabei iterativ, auf die verschiedenen Energiezellen verteilt und parallel gelöst, was den Rechenaufwand für jede Einheit drastisch reduziert sowie den Kommunikationsaufwand zwischen Energiezellen stark verringert. Zum Ausgleich von Prognoseabweichungen und Abweichungen von der vorgesehenen Netztopologie in Folge von Fehlern kann der Prozess des Market Clearings des CISOs auch die Beschaffung von Systemdienstleistungen wie Reserveleistung enthalten. Da dieses Marktkonzept und die Rollen der ISOs deutlich vom Status Quo abweichen, wurde auch ein Transformationspfad untersucht, der mit den europäischen regulatorischen Rahmenbedingungen vereinbar ist.
Die Marktsegmente orientieren sich dabei an den heute existierenden Konzepten. Der CISO betreibt einen Spotmarkt, bestehend aus einem Day-Ahead-Markt und einem Intra-Day-Markt, wobei auf beiden in 15-Minuten-Schritten gehandelt wird. Die zentrale Aufgabe dieses Spotmarkts ist es, kurzfristig Erzeugung, Verbrauch und Flexibilität in Einklang zu bringen, ohne dass Netzrestriktionen verletzt werden. Darüber hinaus ist die Möglichkeit des mittel- und langfristigen Handels mit Energiederivaten bis einen Tag vor der Lieferung vorgesehen, um eine angemessene Methode zur Absicherung zu gewähren.
Märkte für Gas, Wasserstoff und Wärme sind wesentlich seltener mit Engpässen konfrontiert, sodass dort keine Änderungen am heutigen Marktkonzept vorgesehen sind.